Erster Weltkrieg im Antropozän: Umwelt und Imperien-Zerfall in Osteuropa

Bisher wurde Krieg vorwiegend als Auslöser humanitärer Katastrophen wahrgenommen. Doch stimulierten militärische Konflikte auch die Entwicklung neuer Technologien und Infrastrukturen, die Transformation neuer Modelle des Produktionsmanagements, die Erprobung neuer Methoden zur Kontrolle sozialer Gruppen und von Epidemien, sowie zur Durchsetzung der Herrschaft über die Umwelt. In diesem Kontext erscheint der Erste Weltkrieg als entscheidende Zäsur: Seine Frontlinien durchschnitten riesige Territorien zu Lande und zu Wasser, der Einsatz chemischer Waffen und anderer zerstörerischer Technologien veränderte das Erscheinungsbild der militarisierten Landschaften, und die frontnahen und rückwärtigen Gebiete erfuhren einen starken Modernisierungsschub und Wissenszuwachs, etwa auf militärmedizinischem Gebiet. Waren in der Neuzeit die Veränderungen noch direkt mit den Schlachtfeldern verbunden und ihre Folgen lokal und kurzfristig, so machte die Totalisierung der militärischen Operationen des 20. Jahrhunderts diese Folgen nun global und unumkehrbar.
Der aus der Geochronologie entlehnte Begriff "Anthropozän" bezeichnet ein geologisches Zeitalter mit einem hohen Maß menschlicher Einflüsse auf Ökosysteme. Ziel des Projektes ist es, den "Großen Krieg" als eine der entscheidenden Zäsuren des Anthropozäns zu verstehen: die Art der Kriegführung und der Zusammenbruch von Imperien verstärkte den zerstörerischen Charakter der Interaktion zwischen Mensch und Umwelt und beeinflusste die geologische Form der Landschaften in Mittel- und Osteuropa nachhaltig.

Die österreichisch-russische Front des Ersten Weltkriegs erfuhr aus vielerlei Gründen lange nicht die gleiche Aufmerksamkeit der Forschung wie die Westfront. Das Projekt schließt diese Lücke und hat zum Ziel, die Auswirkungen der militärischen Aktionen auf die Umwelt und Lebenswelten der Bevölkerung, auf die Art und Weise des Umgangs mit den natürlichen Ressourcen und auf die industrielle Transformation von Territorien und Landschaften zu analysieren. Besonderer Fokus liegt auf dem österreichischen Kronland Galizien und den Regionen Tarnów, Lemberg und Przemyśl. Die Untersuchung von Prozessen der De- und Rekonstruktion der Umwelt im Moment des Zerfalls der multinationalen Imperien des Russischen Zarenreiches und Österreich-Ungarns illustriert das komplexe Verhältnis zwischen Mensch und Natur im zwanzigsten Jahrhundert.

Alle Projekte beschäftigen sich mit konzeptionellen Fragen während der Zeit des Imperienzerfalls. Aufbauend auf den Arbeiten Ann Stolers zur „Imperial Debris“ wird hierbei nicht nach Ruinen als Zeugnis der Vergangenheit gefragt, sondern der Fokus auf die "Ruinierung" gesetzt.  Die MitarbeiterInnen des Projekts gehen von der Annahme aus, dass der Erste Weltkrieg an der Ostfront die entscheidenden Trends in der Entwicklung von Umweltdiskursen und -praktiken in den Ländern Mittel- und Osteuropas festlegte: der Wunsch nach Annexion der Natur und ihre Eroberung durch ambitionierte technologische Projekte (wie z.B. gigantische Staudämme), Versuche, Ressourcensicherheit durch Umweltpolitik zu gewährleisten.

Im Einzelnen beschäftigen sich die österreichischen und russischen ProjektpartnerInnen mit Fragen der Umweltzerstörung durch militärische Artillerie und Fortifkationen, Wasserstraßen- und Eisenbahnausbau und nichtmilitärisch motivierten Raubbau an der Natur; mit Fragen des Sanitätswesens und der Militärmedizin, insbesondere dem Umgang mit dem Sterben/den Sterbenden in Lazaretten, der Errichtung vorläufiger Grabanlagen, sowie dem Umgang mit Epidemien.